Lucrezia trat hinaus in die kalte Frühlingsnacht. Die Sterne funkelten am Himmel und der Mond schien hell auf den Hof. Der Wind wehte durch die Baumkronen und das Schloss des Weidengatters schepperte bei jedem Windstoß. Auch konnte man Schnarchen aus der Richtung des Stalls hören und die Frau musste schmunzeln. "Zwerge bleiben Zwerge.", dachte sie laut und setzte sich auf die alte Holztreppe. Lange betrachtete sie den Sternenhimmel, ehe sich ihr jemand näherte und sie ihren Blick senkte. Die dunkle Gestalt kam langsam näher und schon bald konnte Lucrezia den jungen Waldläufer unter seinem Umhang erkennen. "Noch wach?", fragte sie ihn und tat so, als sei sie überrascht gewesen ihn noch auf den Beinen zu sehen. Er sah mitgenommen aus, was die Frau stutzen ließ, hatte sie den jungen Mann doch ganz anders eingeschätzt. Der Waldläufer sah die Herrin auf der Treppe sitzen und ging langsam auf sie zu, um ihr eine gute Nacht zu wünschen und nicht den Eindruck zu erwecken, irgendetwas auszufressen. Seine Augen waren dick angeschwollen und er versuchte sie unter seinen Haaren zu verstecken, während er einen Fuß vor den anderen setzte. "Was für ein Tag... für uns beide."; stellte Lucrezia fest und erinnerte sich an all das was ihr Ellie bereits über den Waldläufer erzählt hatte. Emiras runzelte die Stirn. "Wo... woher wisst ihr irgendwas?..." - "Ellie. Ihr habt es geschafft ihr ein schlechtes Gewissen zu machen. Schaffen nicht viele.", antwortete die Frau und deutete auf den freien Platz neben ihr. Zögernd setzte sich der Waldläufer zu ihr und zog die Kapuze seines Umhangs vom Kopf. "Einundzwanzig.", murmelte Lucrezia. "Ist bestimmt nicht euer erstes Abenteuer." "Verzeiht, dass ich Frage, aber was wollt ihr von mir?", fragte Emiras misstrauisch und sah der Frau tief in die Augen. "Mit euch reden. Darf ich das nicht?" Der Waldläufer seufzte nur und ging nicht weiter auf die Frage ein, lauschte dafür aber aufmerksam den darauffolgenden Worten der alten Frau: "Ich war fünfzehn auf meiner ersten Reise... und es begann wie heute, was mir schwer zu schaffen gemacht hat. Ihr seid also nicht der einzige, der von seiner Vergangenheit verfolgt wird. Egal wie sehr man versucht ihr zu entkommen... sie holt einen irgendwie immer ein." Emiras nickte zustimmend. "Ihr sagt es." "Aber man sollte lernen sie zu akzeptieren, um loszulassen, sonst wird sie einem früher oder später zum Verhängnis.", sprach Lucrezia und sah zu Emiras hinüber. "Ich würde euch gerne helfen. Es dauert natürlich seine Zeit, aber sich jemandem anzuvertrauen wäre schon mal ein guter Anfang." "Wo wir beim Problem wären.", erklärte Emiras. "Also erzählt ihr mir nicht von eurem ersten Abenteuer?", fragte die Frau. Der Waldläufer überlegte einen kurzen Augenblick und atmete tief durch. Wollte er das denn wirklich?... er wusste es nicht. Aber was hatte er noch zu verlieren. Hatte er sich nicht bereits zum trottel gemacht? "Erzählt ihr mir denn von eurem?" Überrascht über Emiras Gegenfrage, musste Lucrezia unwillkürlich lächeln. "Natürlich. Ich kann auch anfangen, wenn ihr wollt." Und das tat sie auch.
"Ich lebte mit meinem Vater in Armen Verhältnissen in einem Dorf nördlch von hier. Ich war Viehhüter und war eine wahre Meisterin im "sich-selbst-in-schwierigkeiten-bringen". So kam es also, dass mir die Rinder eines Morgens ausbüchsten. Ich folgte ihrer Spur, wurde von Orks überrascht und von meinen zukünftigen Gefährten gerettet. Sie begleiteten mich zurück zu meinem Dorf, wo ich dem Bürgermeister beichten musste, was mit seinen Rindern geschehen war und er zeigte sich an diesem Tag nicht gerade von seiner besten Seite... falls er so eine jemals besaß. Eine junge Frau aus der Gemeinschaft hob das Wort für mich und ich durfte die Gefährten begleiten, um bei ihr meine Lebensschuld zu begleichen." Emiras runzelte die Stirn. "Mit fünfzehn?" Lucrezia nickte. "Aber sie nahm sie schon bald zurück. Sie wollte mich einfach in Sicherheit wissen... und das war ich in meinem Dorf nicht. Sie hatte sich sicherlich erhofft, dass ich in irgendeinem anderen Dorf, durch welches uns unser Weg führte, bleiben und dort glücklich alt werden würde. Das tat ich aber nicht. Ich war loyal und... na ja...stur und zudem ziemlich naiv und dumm... aber ich war für mein Alter eine gute Gefährtin und... ich wünschte, ich hätte am Ende mehr tun können." "Sie sind gefallen?", hakte Emiras nach und Lucrezia nickte nur. "Das sind sie, ja." Für eine kurze Zeit kehrte eine betretende Stille zwischen den beiden ein, ehe nun Emiras an der Reihe war zu erzählen.
"Nun... wo fange ich am besten an.", sprach er. Seine Stimme war zittrig und er hatte einen Kloß im Hals. Er räusperte sich... doch das Gefühl, als wenn ihm etwas die Luft abschnüren wollte, ging nicht weg. Lucrezia fiel es zwar auch schwer, je näher sie dem Ende ihrer Erzählung kam... aber Emiras wusste noch nicht einmal, wie er anfangen sollte. Er atmete noch einmal tief durch, wartete einen Augenblick ab und begann dann zu erzählen. "Es ist eine lange Geschichte... Mein Vater, der ehemalige Anführer der Waldläufer aus Ithilien, führte so etwas wie "Krieg" mit einer Nomadengruppe aus Harad. Eines Tages konnten sie die Grenzen meines Vaters überwinden und ein kleines Dorf im Wald überfallen, in welchem unter anderem meine Mutter lebte. Ich konnte in aller letzter Sekunde fliehen... sie und die anderen Frauen wurden jedoch verschleppt. Mein Vater wollte gen Süden ziehen... doch er kam nicht weit. Die Waldläufer, welche ihm stolz gefolgt waren und den Kampf überlebten, brachten ihn mit letzter Kraft und schwerverletzt zurück ins Lager. Ich Feigling hatte mich stattdessen fast drei Tage lang im Wald versteckt und... als ich im Lager eintraf musste ich mich von meinem Vater verabschieden. Er... er..." Die Bilder von seinem schwerverletztem Vater spielten sich vor Emiras innerem Auge ab und jagten dem jungen Mann einen kalten Schauer den Rücken hinunter. Zögernd legte Lucrezia dem Waldläufer eine Hand auf die Schulter. "Er wäre gestorben ohne zu wissen, dass ich noch am Leben war." Emiras hielt für einen Augenblick Inne, ehe er seine Geschichte fortsetzte. "Nach dem Tod meines Vaters sinnte ich auf Rache und brach, gegen den Befehl meines Onkels, dem neuen Anführer, nach Harad auf. Mein Vetter stellte sich mir in den Weg... doch ich konnte ihn überlisten... nicht durch Waffenstärke... aber mit Köpfchen. Mein größte Stärke. In Harad angekommen suchte ich nach dem Lager der Nomaden. Ich war lange unterwegs... keine Ahnung wie lange... jedenfalls fand ich das Lager und meine Mutter irgendwann... sie war die letzte Überlebende und... ich... ich konnte sie befreien... doch sie war schwach und die Nachricht über den Tod ihres geliebten Mannes... es brach ihr das Herz. Ich versprach ihr sie nach Hause zu bringen... doch... die Nomaden waren uns gefolgt. Sie überwältigten mich und..." Emiras stockte der Atem und er griff nach dem Riemen seiner rechten Armschiene. Er löste sie und krempelte seinen Ärmel hoch. Zum Vorschein kam eine Narbe, die sich über den ganzen Arm des jungen Mannes zog und sehr gefährlich aussah. "Mein Vetter war mir gefolgt... er rettete mir das Leben. Das Leben meiner Mutter jedoch konnte er nicht retten." Lucrezia musterte geschockt die Narbe im Mondschein und war sprachlos. Sie hatte mit allem gerechnet... aber nicht mit so etwas.
"Jetzt wundert mich nichts mehr...", seufzte sie und drückte ihm ihr Beileid aus. Die Beiden saßen noch eine ganze Weile auf der alten Holztreppe vor dem Gutshaus und unterhielten sich über dieses und jenes... und mit jeder Minute, die verstrich, sah Lucrezia den jungen Waldläufer mit ganz anderen Augen. Er war eine gebrochene Persönlichkeit, die versuchte wieder zusammen zu finden. Er versuchte jemand zu sein, der er nicht war, um den Vorstellungen und Erwartungen anderer gerecht zu werden. Gleichzeitig wollte er helfen, wo er konnte und schottete sich trotzdem von alles und jedem ab, um nicht noch einmal verletzt zu werden... oder andere zu verletzen. Er stand sich also wortwörtlich selbst im Weg.
Sie vertraute ihm so manches aus ihrem Leben an und wollte ihm so viel wie möglich für seine Reise mitgeben. Sie machte ihm Hoffnung und sprach ihm Mut zu und Emiras wünschte, er hätte mehr Zeit gehabt sich mit ihr zu unterhalten... doch es war schon lange nach Mitternacht und es lag noch eine lange Reise vor dem Waldläufer.
•°• •°• •°♡°• •°• •°♡°• •°• •°♡°• •°• •°• people are making apocalypse jokes like there's no tomorrow.
Geändert durch Aryamiril (11.06.2020 18:01)
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