sphnix schrieb: https://www.welt.de/kultur/article1284220/Irgendwas-hat-J-K-Rowling-richtig-gemacht.html
'Die Figuren haben dabei, so Daniel Nexon von der Georgetown University in Washington, den Rahmen der Bücher längst "gesprengt". Sie sind Symbole geworden, "abstrakte Repräsentanten". So steht Lord Voldemort für alles Böse in der Welt, für Faschismus westlicher wie islamischer Prägung, für die Terrorgefahr. Im US-Wahlkampf wurde George W. Bush als Voldemort beschimpft.'
Mit anderen Worten: Sie sind so wenig aussagekräftig & konkret, dass noch jeder das ihm Genehme oder Unangenehme darauf projizieren kann. Gut zu wissen, dass unsere Zeit auf so etwas geil ist und es gebrauchen kann.
'Irgendwas hat J. K. Rowling mit ihren Büchern offenbar richtig gemacht. Natürlich gibt es ein paar Clevere, die das anders sehen. Der US-Autor Michael Duff hat sie passend als die Gruppe der zynischen "Hipster" bezeichnet, coole Typen, die die Bücher und Filme ablehnen, nur weil sie die Masse liebt. Leute, die so tun, als würde man "ihnen ihren Proust wegnehmen, wenn sie jemand beim ,Harry-Potter'-Lesen erwischt".'
Der letzte Satz scheint mir zum Rest des Absatzes nicht zu passen. Ansonsten ein Musterbeispiel dafür, wie man Begriffe, mit denen jemandem (die ansonsten doch so hochgeschätzte) "Intelligenz" zugeschrieben wird, abwertend, oder besser: diskreditierend verwendet. Wer "clever" ist (oder auch etwas "erklügelt"), ist offenbar jemand, der Einwände erfindet, nur um etwas nicht gutheißen zu müssen, dessen Gutsein, zumindest in der Perspektive des Autors, vor aller Diskussion festzustehen hat. Bekanntermaßen war Kritik immer schon das Betätigungsfeld jener Schwachen und Unreifen, die die Wirklichkeit nicht ertragen können und deshalb zum Mittel der dämonischen Schläue greifen, um ihre eigenen Unzulänglichkeiten zum Maßstab der Welt zu machen. So wird die Minderheit zum Unterdrücker und (ursupatorisch gedachten) Realitätsgestalter und eine weltumspannende Millionenauflage zum zarten Pflänzchen umgelogen. Damit nicht genug, kann es natürlich keinen anderen Grund als verletzte Eitelkeit für Kritik geben, schon gar nicht, wenn es Kritik an einem Massenphänomen ist. Denn bekanntlich ist das Gegenstück zur "tumben Masse" die Elite, und folglich ist jeder, der nicht mitmacht, elitär. (Oder will es sein, denn natürlich ist die wahre Elite wirklich klug & weise, sonst würde sie ihren Elite-Status ja gar nicht verdienen.)
'Ein treffendes Bild hat US-Forscher Nexon gefunden. Bei seiner Analyse der internationalen Reaktionen auf die weltweite "Potter"-Welle zieht er den Vergleich zum Rorschach-Test aus der Psychologie: Jeder sieht in den Tintenflecken etwas anderes.'
Äh, Moment, war das nicht gerade etwas Positives? 
'King konterte darauf jüngst in seiner Besprechung des siebten Bandes der "Potter"-Reihe: Während die "Großkopferten" weiter den Tod der Literatur beschwüren und langweilige unlesbare Bücher herausgäben, wendeten die Kinder sich nach ihrem "Potter" schon längst anderen Autoren wie Pullman, Colver, Horowitz und Pilkey zu. Bei Bloom waren die Bücher vor allem sprachlich durchgefallen. Tatsächlich sticht Rowlings Stil durch hohe Lesbarkeit und Klarheit hervor. Zwar sagt selbst King, dass es wohl "kein Adverb gibt, das die Autorin nicht liebt", weshalb sie sie im Übermaß verwende, doch stört das den Lesefluss nicht wirklich.'
Die "Großkopferten" lasse ich einfach mal so stehen. Die Engführung von Leichtverdaulichkeit und Interessantheit auch, wenn ich so darüber nachdenke.
'Es ist das Pathosfreie und Unprätentiöse, das umso positiver hervorsticht, je öfter der Vergleich zu J. R. R. Tolkiens "Herr der Ringe" oder C. S. Lewis' "Narnia-Chroniken" gezogen wird.'
Äh. Wenn Harry Potter "pathosfrei" ist, dann ist es ein Film wie "Independence Day" auch, denn seine Hauptfiguren sind schließlich auch "down to earth", haben ihre kleinen Schwächen und echte Mähnschlichkeit, und überhaupt werden selbst in Momenten höchster Dramatik ständig Witze gemacht, die alles ironisieren. Bestimmt.
'Stimmt: Rowling hat die moderne Welt mit ihren Medien (Rita Kimmkorn), Bürokratien (das Zaubereiministerium), Sport (Quidditch gleich Fußball), Politik (der Minister), ihren Gefahren (Terrorismus, Krieg, Faschismus) in der Zaubererwelt karikiert und konzentriert. Die Moderne ist in allen Büchern da, auch wenn das äußere Bild, die Orte und formalen Strukturen altmodisch sind. Moderne Kommunikationsmittel werden durch Zauberei ersetzt, die Schule ist hierarchisch, und doch werden die rebellischen Kinder nicht wie in den 50ern unterdrückt, sondern (von den Guten) gefördert und akzeptiert.'
Sie hat die bürgerliche Welt verdoppelt und ihr (in Gestalt der Zaubererwelt) erst ihr scheinbares "Ganz Anderes" gegenübergestellt, das sich dann jedoch als ebenso bürgerlich entpuppt, aber irgendwie bedeutsamer, eigentlicher sein soll, gereinigt von den Schlacken der Banalität, ohne dass deren Grundstrukturen reflektiert oder auch nur erkannt würden. Ein uneinheitliches Schlingern zwischen zwei Polen macht noch kein visionäres Drittes, sondern dürfte eher Ausdruck falschen Bewusstseins sein, welches, die eigene Verfasstheit nicht verstehend, sich zum Doppeldenk genötigt sieht. Aber dieser Punkt wäre vielleicht besser in der Bibliothek im entsprechenden Thread ausführlicher zu besprechen.
'Große literarische Werke zeichneten sich oft durch eine eindeutige kulturelle Identität und Tradition aus. '
Offenbar sind wir inzwischen so weit, dass wir über "Kultur" nur als identitätsstiftenden Besitz sprechen und denken können*, was den solcherart vereinnahmten "Kulturstiftern" und ihren Werken gegenüber wohl den größten und grausamsten Grad an Ignoranz darstellen dürfte: "Ihr errichtet den Propheten Grabstätten und schmückt die Denkmäler der Gerechten und sagt dabei: Wenn wir in den Tagen unserer Väter gelebt hätten, wären wir nicht wie sie am Blut der Propheten schuldig geworden. Damit bestätigt ihr selbst, dass ihr die Söhne der Prophetenmörder seid. Macht nur das Maß eurer Väter voll!"
*Zugegeben, hier habe ich mein Adorno-Epigonentum (Hoffentlich!) auf die Spitze getrieben. 
'Eine Herausforderung stellen die Romane zudem wegen der totalen Ausklammerung von Religion dar. Obwohl Rowling selbst gläubig ist und die ethischen Werte des Christentums in ihren Büchern transportiert, gibt es keine Kirche, keine Moschee, keine Synagoge. Doch der Vorwurf, sie verführe Kinder zum Okkultismus, entbehrt jeder Grundlage, weil die Zauberei in Hogwarts in keiner Weise religiöser Natur ist. Es geht nicht um irgendeinen Glauben. Ein guter Zauberer wird Harry nur durch Talent, Ambition und Fleiß. Es gibt keinen Zauberergott.'
Mit anderen Worten: Am Ende der Säkularisierung bleibt dem spätkapitalistischen Bürgertum nur noch, sich selbst zu vergotten. Was im Epilog endgültig triumphiert hat, ist der reale Übermensch in der Heiligen Familie und dem unbesiegbaren Alltag.
'So etwas gab es bislang in dieser Kombination nicht. Sie hat, wie Stephen King schreibt, den Beatles-Effekt in der Literatur wiederholt. Er setzt auf die Hoffnung, dass das gute Buch nicht tot, sondern vielmehr der Markt mit "hohen Standards" erst wieder richtig geöffnet worden ist.'
Nun, da der Gedanke von Kunst unter den Bedingungen der Marktwirtschaft ohnehin nur noch als Chance für die Lesepädagogik vorkommen kann, bleibt nur noch festzustellen: All was well.
In ihrem Schweigen gegen die Erlebnisberichte der Individuen wird die Totalität das letzte Wort behalten.
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